Definition

Der Begriff der Science Fiction (SF) wurde Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals weitläufig gebraucht, um eine Form der Literatur zu beschreiben, in der es um technische Erfindungen ging, um Abenteuer, die sich nur mit Hilfe von technisch-wissenschaftlichem Verstand bestehen ließen und um Visionen, was neue wissenschaftliche Erkenntnisse alles möglich machen könnten. Hugo Gernsback, der den Begriff populär machte, nutzte ihn zur Beschreibung der Geschichten, die in den von ihm herausgegeben Groschenheften („pulp magazines“) erschienen. Gernsback, selbst Erfinder und Autor, war der erste Herausgeber von Amazing Stories, einem der wohl wichtigsten Hefte für SF-Geschichten, und wollte mit Hilfe des Begriffs „Science Fiction“ einen Markt generieren und ein Klientel anlocken, das sich für Wissenschaft und Technik interessierte.

An dieser Stelle bemerkt man also, dass Genrebegriffe wie die Science Fiction häufig mit einer Funktion verbunden sind. Genres sind gute Kategorien für AutorInnen, Verlage, aber auch LeserInnen, um sich auf Erwartungshorizonte zu einigen. Entsprechend geht man heute in der Genreforschung davon aus, dass Genres historisch veränderbar sind und eben durch LeserInnen, AutorInnen, und andere ‚Praktizierende’ immer wieder neu definiert werden. Man spricht hier von Praxisgemeinschaften („communities of practice“), die Genre verhandeln und Grenzen verschieben. Und das können sehr unterschiedliche Praktizierende auch ganz unterschiedlich nutzen. AutorInnen etwa haben manchmal ein Problem mit zu engen Genre-Schubladen und versuchen durch eigene Aussagen neue Begriffe zu schaffen. Für die Science Fiction ist Margaret Atwood hier ein gutes Beispiel, da die kanadische Autorin standfest behauptet ihre Romane wie Der Report der Magd (1985) oder Oryx und Crake (2003) seien keine Science Fiction, sondern Speculative Fiction. Für LeserInnen von SF hat das aber wenig Auswirkung: Atwood gilt hier als Science Fiction. Was als SF gilt, das bestimmen die verschiedenen SF-Praxisgemeinschaft also immer wieder neu – und das schon seit knapp 100 Jahren.


Eine gute Einleitung in die Science Fiction und das Konzept historisch veränderbarer Genres und deren Nutzung in Praxisgemeinschaften geben die folgenden Aufsätze von John Rieder:


Und so wundert es also nicht, dass es buchstäblich dutzende verschiedene Definition von Science Fiction gibt. Gerade in der Wissenschaft wurden Definitionen oft dazu genutzt, bestimmte unliebsame Werke aus der Literatur auszuschließen. Wenn ich also argumentieren möchte, dass die SF ein Teil literarischer Hochkultur ist, dann ist es natürlich gerade angenehm, wenn ich die Werke aus meiner Definition ausschließe, die mir nicht gelegen kommen, also etwa alles, was mir zu klischeehaft wirkt oder nicht genug intellektuellen Anspruch hat. Einen ausführlichen und toll zusammengestellten Überblick, was WissenschaftlerInnen und AutorInnen in den letzten Jahrzehnten alles so über die SF gesagt wurde, bietet Charlie Jane Anders in ihrem Artikel „How many Definitions of Science Fiction are there?

Für unsere Diskussionen hier im Lernangebot ist es also sinnvoll, wenn wir uns auf eine Definition von Science Fiction einigen. Aber auch diese sollte natürlich bestimmte Zwecke erfüllen, da wir ja ein paar Ziele definiert haben. Wir wollen über Zukunftsvisionen sprechen und darüber in wie weit die Science Fiction uns helfen kann, über unser Leben mit neuen Technologien und deren Konsequenzen nachzudenken. Dabei geht es uns vermutlich nicht vornehmlich darum, wie grüne gasförmige Aliens auf ihrem Planeten leben oder wie Zeitreisen zurück in das Mittelalter so funktionieren und was passiert, wenn man seinen eigenen Opa tötet – obwohl es auch Definitionen von SF gibt, die diese Szenarien umfassen. Ich habe daher ein paar Konzepte zusammengestellt, die unserer Idee von SF entsprechen und die wir im Rahmen dieser ersten Themensitzung diskutieren können.

Technologie

In seinem Buch Science Fiction (2005) schreibt Roger Luckhurst, SF sei die Literatur technologisch gesättigter Gesellschaften und bezieht sich damit auf ein Verständnis der SF als literarischen Ausdruck sich im 19. Jahrhundert radikal wandelnder Lebensverhältnisse.

For me, SF is a literature of technologically saturated societies. A genre that can therefore emerge only relatively late in modernity, it is a popular literature that concerns the impact of Mechanism […] on cultural life and human subjectivity.

  • Roger Luckhurst, Science Fiction (2005), S. 3

Überall im Westen entstehen durch die Industrialisierung immer neue Technologien und damit verbunden neue Lebensrealitäten, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen und für immer verändern. Automatisierung in der Produktion erlaubt zum einen maschinell produzierte Güter, wandelt damit aber auch die Arbeitsumfelder in neugeschaffenen Fabriken. Technologien wie die Elektrizität lassen Tag und Nacht miteinander verschmelzen und neuen Lebensräume in Großstädten entstehen. Dazu kommen radikale gesellschaftliche Umwälzungen im Nachgang der Aufklärung. Die Zentralstellung der menschlichen Vernunft bringt mit sich eine Verschiebung weg vom Glauben hin zur Wissenschaft. Wissenschaftliche Erkenntnis gewinnt im Laufe der Industrialisierung zunehmend an Bedeutung. Dazu kommt der Verlust von Einfluss seitens des Adels (der seinen Reichtum auf Landbesitz gründet) und die Entstehung einer neuen bürgerlichen Schicht (die durch industriellen Erfolg reich wird). Die Science Fiction reflektiert in ihren Themen und Motiven genau diese Veränderungen und entsteht als Genre zu dem Zeitpunkt, als die industrialisierten – technologisch gesättigten – Gesellschaften ein kreatives Outlet für ihre Ängste und Wünsche suchten. SF in diesem Sinne ist ein Produkt des Wandels, der durch Aufklärung und Industrialisierung erzeugt wurde und benötigte den Zweifel an alten Erklärungsmustern, um eine neue Denkweise zu erlauben.

Science fiction is the search for a definition of mankind and his status in the universe which will stand in our advanced but confused state of knowledge (science)…

  • Brian W. Aldiss, Billion Year Spree: The True History of Science Fiction (1973), S. 8.

Brian Aldiss schrieb dazu, die SF sei die Suche nach einer Definition des Menschen und seines Platzes im Universum, die angesichts des verwirrten Zustands des Wissens stand zu halten vermag. Er beschreibt die radikalen Veränderungen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts als so radikalen Einschnitt in das Denken der Menschen, dass diese nach neuen Erklärungen suchen, nach einem Verständnis davon, wie und wo sie in das Gesamtgefüge der Schöpfung noch passen. Beide Autoren sehen also Technologie und Wissenschaft als zentrale Elemente, die nicht nur SF-Geschichten motivieren, sondern die SF als Genre überhaupt erst produziert haben.

Veränderung

Wie bereits im Abschnitt ‚Technologie’ zu sehen ist die Science Fiction geprägt durch Veränderungen, die von Technik, Wissenschaft und Fortschritt produziert werden. Aber mehr noch, wie James Gunn feststellt, ist die Science Fiction die Literatur des Wandels schlechthin, stellt sie doch weniger eine einzelne Charakterentwicklung in den Vordergrund, als vielmehr eine gesellschaftliche Entwicklung.

Science fiction is the branch of literature that deals with the effects of change on people in the real world as it can be projected into the past, the future, or to distant places. It often concerns itself with scientific or technological change, and it usually involves matters whose importance is greater than the individual or the community; often civilization or the race itself is in danger. (6)

  • James E. Gunn, “Towards A Definition Of Science Fiction”, Speculations On Speculation: Theories of Science Fiction (2005)

Im Gegensatz zu weiten Teilen realistischer Kulturproduktion, geht es der Science Fiction nicht darum, wie einzelne Menschen exemplarisch den immer gleichen Wahrheiten (Liebe, Konflikt, Tod) des Lebens begegnen, sondern vielmehr darum aufzuzeigen, wie diese Wahrheiten sich aufgrund von fortschreitender menschlicher Entwicklung wandeln können. Die Science Fiction stellt daher die großen Wandlungen als übergeordnetes Thema in den Raum, konzentriert sich auf die Prozesse des Fortschritts und die Struktur des Wandels. Der Autor und Kritiker Brooks Landon hat das wie folgt ausgedrückt:

Science Fiction is the literature of change. More precisely, science fiction is the kind of literature that most explicitly and self-consciously takes change as its subject and its teleology. (xi)

  • Brooks Landon, Science Fiction After 1900: From Steam Man to the Stars (2002)

Entsprechend ist die Science Fiction geprägt von sozialen Veränderungen und konnte, etwa in den 1970er Jahren, auch für Themen der Bürgerrechts- oder der Frauenrechtsbewegung eingesetzt werden. Im Rahmen der Science Fiction entstanden so neue Visionen veränderter sozialer Strukturen wie egalitäre Gesellschaften, ökologisch nachhaltige Lebensformen, oder Ökonomien jenseits des Kapitalismus. Zu diesen Visionen gehören dann auch die Utopien, die als politische Literaturform auf dem 1516 erschienen Werk Utopia von Thomas Morus basieren und bessere Welten zeichnen, um so auf Probleme in der heutigen Gesellschaft hinzuweisen.

Reflexion

Genau diese Verweiskraft von Utopien, Dystopien (negative Utopien) und eben auch Science Fiction ist ein wesentlicher Bestandteil der SF, wie sie zum Beispiel Darko Suvin sieht. Suvin versteht die SF als Literatur, der es darum geht im Leser sowohl Verstehen als auch Verfremdung hervorzurufen. Er verweist damit auf ein Konzept, das u.a. auch Brecht für seine Theaterstücke nutzte, und demnach durch die Verschiebung der Perspektive, durch die Verzerrung von Realität („estrangment“), es der LeserIn möglich ist das eigene Leben zu erkennen („cognition“), es aber völlig neu zu betrachten und zu bewerten.

SF is, then, a literary genre whose necessary and sufficient conditions are the presence and interaction of estrangement and cognition, and whose main formal device is an imaginative framework alternative to the author’s empirical environment. (7-8)

  • Darko Suvin, Metamorphoses of Science Fiction: On The Poetics and History of a Literary Genre (1979)

Damit verweist die SF aber eben nicht wirklich auf eine weit entfernte Zukunft, sondern ist als Reflexionsfläche der Gegenwart zu verstehen. In der Science Fiction geht es nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart. Zwar sind die Visionen des Zukünftigen dazu da, sich verschiedene Wege ins Morgen auszumalen, aber sie sind eben immer ausgehend von unserem Startpunkt, dem Heute.

SF is a controlled way to think and dream about the future. An integration of the mood and attitude of science (the objective universe) with the fears and hopes that spring from the unconscious. Anything that turns you and your social context, the social you, inside out. Nightmares and visions, always outlined by the barely possible. (343-44)

  • Gregory Benford, quoted in James Patrick Kelly, „Slipstream“. Speculations On Speculation: Theories of Science Fiction (2005).

Gregory Benford sieht die SF daher als gesellschaftlichen Verarbeitungsmechanismus all der Träume, Ängste und Hoffnungen, die wir aufgrund unseres aktuellen Entwicklungsstandes für die Zukunft haben. Wenn wir sehen, wie weit Technologie heute ist, dann extrapolieren wir das und beginnen darüber nachzudenken, wie Technologie morgen wohl sein könnte. Und damit kommen positive wie auch negative Visionen zum Vorschein, die wir im Heute dazu nutzen können, den vor uns liegenden Weg neu zu überdenken. Das ist die Macht der Science Fiction und das ist es auch, womit wir uns hier im Lernszenario beschäftigen wollen.


Geschichte


Diskussion

Ein Beispiel dafür, wie auch journalistische Texte sich bei SF bedienen, um mittels Blick in die Zukunft politische oder soziale Aussagen über die Gegenwart zu treffen, ist eine aktuelle Multimedia-Story auf Spiegel Online, die sich mit den Auswirkungen von Technologie auf unser Leben beschäftigt. Hier geht es zu “Wie wir 2037 leben werden” … im Forum unten, können wir über die folgenden Fragen diskutieren:

  • Ist der Text Science Fiction? Warum/Warum nicht?
  • Welche Technologien/Entwicklungen werden hier besprochen?
  • Welche Veränderungen (im sozialen/politischen/privaten) zeigt der Text auf?
  • Welche Reflexion auf Heute lässt er zu?

Weiterführende Literatur und Quellen

  • Aldiss, Brian W. Billion Year Spree: The True History of Science Fiction. New York: Doubleday, 1973.
  • Bould, Mark und Sherryl Vint, Hg. The Routledge Concise History of Science Fiction. New York: Routledge, 2011.
  • Gunn, James und Matthew Candelaria, Hg. Speculations on Speculation: Theories of Science Fiction. Lanham: Scarecrow, 2005.
  • Landon, Brooks. Science Fiction After 1900: From Steam Man to the Stars. New York: Routledge, 2002.
  • Luckhurst, Roger. Science Fiction. Cambridge: Polity, 2005.
  • Rieder, John. “On Defining SF, or not: Genre Theory, SF, and History”. Science Fiction Studies 37.1 (2010): 191-209.
  • Rieder, John. “What is SF? Some Thoughts on Genre”. A Virtual Introduction to Science Fiction. Hg. Lars Schmeink. Web. 2012. http://virtual-sf.com/?page_id=137. 1-17.
  • Suvin, Darko. Metamorphoses of Science Fiction: On The Poetics and History of a Literary Genre. New Haven: Yale UP, 1979.
  • Vint, Sherryl. Science Fiction: A Guide for the Perplexed. London: Bloomsbury, 2014.